Artikel in der Informationszeitschrift von Physio Austria, Bundesverband der PhysiotherapeutInnen Österreichs,

Februar 2012

Sturzprophylaxe mit Hilfe der Vojta Therapie

Was kann die Vojta Therapie in der Geriatrie leisten?

Das 4. Internationale Johannes Bischko Symposium für Akupunktur fand von 25. – 27. November 2011 in Wien in den Räumen des Bundesministeriums für Gesundheit statt. Das Thema „Fokus Geriatrie“ wurde von der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie und Gerontologie sowie der Österreichischen Gesellschaft für Neuraltherapie gemeinsam mit der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur bestritten. Die Herausforderungen des Alterns standen im Mittelpunkt. Viele Vortragende waren sich über den hohen Stellenwert von prophylaktischen Maßnahmen einig.
Auf Einladung von Frau Dr. Stockert, Praktische Ärztin in Wien und Mitglied des Vorstandes der Österreichischen Gesellschaft für Akupunktur, habe ich meine Erfahrungen mit der Vojta Therapie bei geriatrischen Patienten vorgestellt.
In diesem Kontext wies ich auf die Herausforderungen der Physiotherapie für diese Patienten hin und zeigte, dass mit Hilfe der Vojta Therapie ein prophylaktischer Ansatz zur Sturzprophylaxe und damit zum Erhalt der freien Gehfähigkeit möglich ist.

Menschen mit fortgeschrittenen Alter stellen sich viele Fragen: der Lebensinhalt in der Pension, das Umgehen mit dem Verlust von geliebten Menschen. In diesem Zusammenhang stellt sich auch das Thema der zunehmenden Isolation gepaart mit geringerer Bewegungsfreiheit und kleineren Bewegungsradien. Zu diesen sozialen Herausforderungen kommen physiologische Prozesse, die als natürlicher Alterungsverlauf gelten und die es zu erkennen und präventiv zu beeinflussen gilt.
Dazu gehört der Verlust von Kraft und Ausdauer, die Verlangsamung in allen Fortbewegungen, Schwierigkeiten bei der Aufrichtung gegen die Schwerkraft – die Wirbelsäule verändert ihre Krümmungen und verliert ihre Bewegungsfreiheit vor allem in der Drehung und Streckung.
Die praktische Erfahrung zeigt als Hauptproblem beim Altern den Verlust der freien Gehfähigkeit!

Freie Gehfähigkeit bedeutet mehr als nur Gehen am Stück. Es bedeutet freie Fortbewegung im Alltag. Daran geknüpft sind Funktionen wie Auf Aufforderung Stehen bleiben, Umdrehen, sowie ein Gehen Bergauf und Bergab, und das Überwinden von Gehsteigkanten. Freies Gehen ist neben der bloßen Fortbewegung auch Orientierung und Kommunikation: man schaut zum Ziel, man kann aber auch den Blick vom Ziel abwenden und sich umsehen, ob zum Beispiel ein Auto kommt,… man kann sich beim Gehen auch mit einem Mitmenschen unterhalten ohne dazu Stehenbleiben zu müssen.
Die freie Gehfähigkeit erlangt der Mensch mit dem 1. Lebensjahr (zwischen 12 und 16 Monaten kommt es zum freien Gehen bei den Kindern). Dies reiht sich an eine lange Kette von Meilensteinen der motorischen Entwicklung, welche die Voraussetzung für dieses Gehen schaffen. Das freie Gehen im Alltag erreicht das Kind mit 2 Jahren.
Die Entwicklung ist damit aber nicht zu Ende, sondern geht weiter, es kommt zum Laufen und zu hoch differenzierten Bewegungen wie Klettern, Seiltanzen,…
Motorische Entwicklung endet nie. Im Alter kommt es zu einem physiologischen Abbau von Funktionen und zum Verlust von Fähigkeiten. Darin besteht die Herausforderung in der Betreuung der Menschen in der Geriatrie. Unsere Aufgabe liegt nicht nur in der Behandlung von altersbedingten Störungen, wenn diese sich schon manifestiert haben, sondern vor allem in der Prophylaxe gegen die Abnahme von Funktionen, welche die Fortbewegung ermöglichen.

Die Elemente der Freien Gehfähigkeit sind in Anlehnung an Sten Grillner die gleichen wie bei jeder Form der Fortbewegung: Fortbewegung ist arttypisch (beim Menschen bipedal), zyklisch, reziprok und automatisch.

Sten Grillner, geb. 1941, ist Professor am Nobel Institut für Neurophysiologie am Karolinksa Institut in Stockholm.
Er beschäftigte sich in den 80er Jahren mit der zentralen Steuerung und Reflexinteraktion der Fortbewegung von Wirbeltieren. (1,2). Sein Forschungsschwerpunkt heute liegt im Verstehen von neuronalen Netzwerken und deren Einfluss auf Fortbewegung, Körperhaltung und Orientierung Er erhielt 2008 den Kavli-Preis für Neurowissenschaften.

Unsere Befundparameter, sowie die Therapie möchte also diese Systeme ansprechen um genau an dem Problem des Verlustes der Fortbewegung anzusetzen, um erfolgreich zu sein.

Assessment:
Ein gutes Assessment stellt der Timed Up and Go Test dar. Dieser ist für die Arbeit in der Geriatrie evaluiert und als aussagekräftig bekannt. (3,4) Der Patient muss dabei von einem Stuhl aufstehen, eine Strecke von 3 Metern gehen, umdrehen, zurückgehen und sich wieder setzen. Dabei wird die Zeit gemessen und bewertet Ist das Tempo nach der Therapie rascher, bedeutet dies, das etwas an der Automatik, an der Steuerung der Fortbewegung, verändern werden konnte.
Ein weiteres aussagekräftiges und einfaches Assessment ist der Ein-Beinstand. Ein Ein-Beinstand von mehr als 3 Sekunden auf je einem Bein, stellt das höchste Lokomotionsmuster in der motorischen Entwicklung dar. Mängel an Aufrichtemechanismen und Haltungssteuerung machen sich hier direkt bemerkbar und lassen sich in Bilder dokumentieren.

 

Therapie

Wie lässt sich die Vojta Therapie einsetzen?

Die Vojta Therapie (auch Reflexlokomotion nach Vojta 5,6) beinhaltet Fortbewegungsmuster, die abgerufen und gebahnt werden.
Die Vojta Therapie ist ein neurophysiologisches Behandlungskonzept, welches unbewusst, also reflektorisch alle Schaltebenen des Zentralen Nervensystems bedient.
Die Fortbewegungskomplexe, Reflexkriechen und Reflexumdrehen, enthalten die vorher genannten Elemente der Fortbewegung: Reflexlokomotion ist zyklisch, reziprok und automatisch abrufbar.

 

Reflexlokomotion nach Vojta

Aus genau definierten Ausgangsstellungen wird über Zonen mit dreidimensionalem Druck eine Aktivierung, das Fortbewegungsmuster Kriechen oder Drehen, erreicht. Der Therapeut steuert das Muster über Zonenkombinationen und Widerstände.
Die motorische Antwort auf die Reizsetzung ist ein physiologisches Fortbewegungsmuster das idealer weise in die Spontanmotorik übernommen wird. Diese Muster werden reflektorisch aktiviert, der Patient erhält keine Bewegungsaufträge.
Mehr Information zur Vojta Therapie unter www.vojta.com

Ich habe in den letzten zwei Jahren meine älteren Patienten mit dem TUG befundet. Einerseits um den Soforteffekt einer Therapie zu dokumentieren, andererseits um die Menschen in größeren Abständen in ihrer Gangleistung zu kontrollieren und beim Älterwerden zu begleiten.
Bei allen kommt es zu oben beschriebenen Soforteffekt – der TUG ist nach der Vojta Therapie rascher. Bei vielen kam es nach einer Sturzserie zum Therapieeinstieg zu keinen weiteren Stürzen mehr.
Die Vojta Therapie stellt damit in ihrer Idee und auch in der praktischen Umsetzung ein adäquates Therapiemittel dar.
Das Älterwerden und den Abbau kann man nicht verhindern, aber wichtig ist es die beginnenden Anzeichen eines Verlusts der Freien Gehfähigkeit zu erkennen, und die Ursache zu behandeln.

Unser Beruf ist ein Handwerk, das jeweilige Werkzeug eines von vielen Möglichkeiten.

Literatur

  1. Grillner S. ( 1985) Neurobiologische Grundlagen des rhythmischen motorischen Handlungen in Wirbeltieren. Wissenschaft 228:143-149.
  2. Grillner S (1975) Locomotion bei Wirbeltieren – Central Mechanismen und Reflex-Interaktion. Physiol. Rev. 55:247-304. )
  3. Arbeitsgruppe Neurologie, Physio Austria, Assessments in der Neurologie, 2009
  4. Herman T., Gildi N. Hausdorff Properties of the TUG, more than meets the age“ , aus der Fachzeitschrift Gerontoloy 57(3), 203-10, 2011
  5. Vojta, Peters, 2007 Das Vojta-Prinzip, Springer Verlag
  6.  Vojta, 2000 Die cerebralen Bewegungsstörungen im Säuglingsalter, Hippokrates